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Glossar

Stummfilme / Musiker

Der Golem, wie er in die Welt kam

[Paul Wegener, Carl Boese, D 1920]

„Daß er im Wundersamen Klarheit bewahrt“
Paul Wegeners GOLEM ist ein moderner Autorenfilm

DER GOLEM, WIE ER IN DIE WELT KAM erzählt von Existenzkampf, Verzweiflung und Hoffnung. Vor dem Hintergrund der Schrecken des Ersten Weltkrieges und der Nachkriegsjahre spiegelt er eine zerrissene, verkehrte Welt. Einmal zum Leben erweckt, irrt der Golem wie ein „Zombie“ durch die perspektivisch verzerrten Gassen des Prager Ghettos. Die kleinen Häuser mit ihren schiefen Wänden und den schweren tiefhängenden Ziegeldächern scheinen zu weinen. Die organische Architektur des Ghettos und der Amok laufende Golem, die kunstvoll konstruierten Filmkulissen und die somnambule Gestalt verschmelzen. Das Konzept des Films ist so einfach wie modern: Die leblosen Dinge schreien auf, wo die Menschen machtlos schweigen.

Prag, im 16. Jahrhundert. Rabbi Loew liest in den Sternen, dass der jüdischen Gemeinde Unheil droht. Nach einer alten Legende kann nur noch der Golem, was auf Hebräisch Klumpen, formlose Masse heißt, helfen. Sofort macht sich Rabbi Loew an die Arbeit und formt den Mann aus Lehm. Eine mystische Buchstabenkette in einem fünfzackigen Stern auf der Brust des Golem verleiht der behäbigen, staubigen Gestalt Leben.

Rabbi Loew nimmt den Golem mit auf ein Fest am kaiserlichen Hof. Dort rettet der Golem das Leben des Kaisers, der aus Dankbarkeit seinen Befehl, die Juden aus der Stadt zu weisen, widerruft. Das Unheil ist abgewendet, der Golem hat seinen Zweck erfüllt und wird „abgeschaltet“. Doch anstatt wieder zu einfachem Lehm zu werden, läuft er Amok und setzt das Ghetto in Flammen.

DER GOLEM, WIE ER IN DIE WELT KAM (1920) ist der dritte von drei deutschen Golem-Filmen,  davor entstanden – die heute nur noch in Fragmenten erhaltenen Filme – DER GOLEM (1914) und DER GOLEM UND DIE TÄNZERIN (1917). Für alle drei Filme schrieb Paul Wegener das Drehbuch und spielte den Golem, bei den Filmen von 1917 und 1920 führte er auch Regie. Die berühmte, in allen drei Filmen ähnliche Gestalt des Golem, seine markante Haarform, sein steinerner Kittel und seine hohen Schuhsohlen, kreierte Wegener gemeinsam mit dem konstruktivistischen Bildhauer Rudolf Belling. Diese Figur schrieb Horrorfilm-Geschichte: Der Golem bewegte sich nicht nur wie ein Zombie, sondern diente auch als Vorbild für die Darstellung der Frankenstein-Figur in den 30er Jahren.

DER GOLEM, WIE ER IN DIE WELT KAM schildert die Vorgeschichte zu den anderen beiden Filmen, deren Handlung in der Gegenwart spielt. Der Film greift damit unmittelbar auf die jüdische Legende vom Golem zurück und verändert diese nachhaltig. Auch bei Wegener erschafft ein Rabbi den Golem. Allerdings benutzt er anders als in der Legende für sein Werk allein astrologische und chemisch-alchemistische Kenntnisse und nicht die Kabbala. Folgerichtig versagt, als der Golem später Amok läuft, die mystische Zauberkraft: Rabbi Loew ist machtlos. Nur ein naives, weiß gekleidetes und vom Licht ganz erfülltes Kind liebt den Golem und bringt – die christliche Konnotation ist unübersehbar – dem Monster durch seine Liebe auch die Erlösung.

DER GOLEM, WIE ER IN DIE WELT KAM ist ein Klassiker des deutschen Stummfilms: Ein Kunstfilm, der in Wirklichkeit eine aufwendige und teure Produktion war, ein früher Autorenfilm, der sich als „deutsch“ hervorragend im Ausland verkaufte. Paul Wegener brachte in diesem Film, wie ein Blick auf die Stabangaben deutlich macht, nicht nur viele spätere Talente des Weimarer Kinos zusammen, sondern verband ihre Arbeit virtuos.

Der Hauptdarsteller und Regisseur Paul Wegener versuchte bereits in den 10er Jahren, das Kino durch märchenhafte Stoffe für ein bürgerliches Publikum zu öffnen. Seine Filme fanden Bilder für Doppelgänger, Berggeister und Elfen. Die Integration von phantastischen Elementen in die Filmhandlung wirkte auf eine ganze Generation von Kunstfilmen stilbildend.

Karl Freunds Kamera übersetzte die Zauber- und Beschwörungsszenen des Films in ein unheimliches, aber wildes Spiel aus Licht und Schatten zu übersetzen. Der Co-Regisseur Carl Boese wiederum avancierte in den folgenden Jahren zu einem der kommerziell erfolgreichsten Regisseure Deutschlands.

Das Besondere des Films aber waren seine Kulissen. Dafür zeichnete sich Hans Poelzig verantwortlich, der 1919 das Große Schauspielhaus für Max Reinhardt, den Lehrmeister Wegeners, umbaute. Poelzig und Wegener verband eine lebenslange Freundschaft. Noch 1936 hielt Paul Wegener den von den Nazis degradierten Poelzig die Treue und sprach die Grabrede für seinen Freund. Auf Entwürfe von Poelzig geht übrigens auch die Spielstätte der StummfilmKonzerte, das Kino Babylon, zurück.

Das Prager Ghetto wurde in den Ateliers von Berlin-Tempelhof von Poelzig und Kurt Richter nachgebaut. Hans Poelzig wollte keine historische Rekonstruktion. Vielmehr verlieh er einer Stimmung Ausdruck. Der aufstrebende hohe Ghettoturm, die schiefen Innenräume, die spitzen Tore, die engen Gassen, die sich einander zuneigenden Häusergiebel und die viel zu kleinen, schiefen Fenster entstehen aus Poelzigs Phantasie und sind gleichsam Ausdruck der bedrückenden Atmosphäre des alten nur 20 Jahre zuvor abgebrochenen Prager Ghettos. Für Rudolf Kurtz sind diese künstlichen Kulissen von einer kraftvollen „inneren Lebendigkeit“ erfüllt.

Auch Paul Wegener schwärmt: „Es ist nicht Prag, was mein Freund, der Architekt Poelzig aufgebaut hat. Nicht Prag und nicht irgendeine andere Stadt. Sondern es ist eine Stadt-Dichtung, ein Traum, eine architektonische Paraphrase zu dem Thema „Golem“. Diese Gassen und Plätze sollen an nichts Wirkliches erinnern; sie sollen die Atmosphäre schaffen, in der der Golem atmet.“ Dem fügt ein zeitgenössischer Kritiker prophetisch hinzu: „Es scheint, als reife hier zwischen expressionistischen Experimenten und streng akademischer Bauart ein neuer Kinostil heran.“ (Alfred Rosenthal, in: Berliner Lokal-Anzeiger, 31.10.1920)

DER GOLEM, WIE ER IN DIE WELT KAM ist zu diesem Vorboten eines modernen Kinostils geworden, weil er neben der Handlung auch die Filmästhetik, die mise en scène und das Schauspiel betont. Die leblosen Dinge, die Filmkulissen, der Golem, reden, nicht die Menschen, die machtlos schweigen. Das ist einfach und wirkungsvoll. Ein anderer zeitgenössischer Kritiker schrieb: „Der Vorzug des GOLEM ist, daß er im Wundersamen Klarheit bewahrt. Gebt Erstaunendes, Schauerndes, aus dunklen Tiefen Geholtes, aber gebt es einfach! Das ist das Rezept, wenn ihr die Menge, die euch zahlen soll, ins Haus locken wollt!“ (Fritz Engel, in: Berliner Tageblatt, 31.10.1920)

Jürgen Dittrich, 24.05.2006

Bilder: Filmmuseum Berlin

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